Schon klar, wir wissen bescheid über Klimawandel, Umweltzerstörung und Artensterben, jedoch sind wir an einem Punkt angekommen, an dem die Eingriffe des Menschen in die Natur eine erdgeschichtliche Dimension erreicht haben. Das als Anthropozän seit ein paar Jahren kontrovers diskutierte Zeitalter bedeutet, behalten die Fürsprecher Recht, eine Umwälzung, wie sie der Mensch noch nicht erlebt hat. Eine Umwälzung, die nicht nur das Verhältnis zur Natur betrifft, sondern damit untrennbar verbunden auch all die Gewissheiten und Koordinaten ins Kippen bringen würde, in denen wir unser Weltbild und unser Denken eingerichtet haben. Das Anthropozän ist also keine rein naturwissenschaftliche Angelegenheit. Es betrifft alle Aspekte der menschlichen Kultur, von Ethik und Politik bis hin zu Religion und Kunst.
Jedoch sollte über die Betrachtung der Umweltzerstörung, als Wirkung, hinaus nach der Ursache gefragt werden. Dabei ist der westlich geprägte Blick ein sehr verzerrter - wird hier in den Grundzügen doch ein Leben gelebt, welches als unbekümmert und ausbeuterisch bezeichnet werden kann. Es sollte also nicht nur die Auswirkung, sondern darüber hinaus die Frage nach der Haltung, welche der Mensch dazu einnimmt diskutiert werden. Wie re-sensibilisiert sich der Mensch für die Zusammenhänge der Welt in der er lebt? Wie verbindet er das, was er tut mit dem, was er weiß?
Aus einem Gespräch zwischen Sahra Wagenknecht* und Harald Schmidt** ist dieser Zusammenhang passender Weise verknappt dargestellt. Was spricht gegen den Kapitalismus? – Gegenfrage: Was spricht für den Kapitalismus? Antwort: Mein Lebenstil! Worin besteht also das Dilemma? Das Dilemma ist aus dieser Perspektive betrachtet nicht nur das Plastik in den Weltmeeren oder der menschengemachte Anstieg des CO2 Gehaltes in der Atmosphäre, nein das Dilemma ist der Umstand das wir nicht wissen wie wir damit umzugehen haben. In diesem Bezug zeigt die Ausstellung nicht nur Werke, welche sich mit der Umweltthematik auseinandersetzen sondern auch Werke, welche das System in seiner Funktionsweise aufzeigen.
Ein sehr umfangreiches Themengebiet, welches im Rahmen der Möglichkeiten von Eigenheim Berlin nur in einer kleinen Betrachtung zum Anthropozän münden kann. So zeigen die Malereien von Enrico Freitag bis an den Horizont reichende Monokulturlandschaften genetisch optimierter Tulpen, die Fotografien von Claudius Schulze auf subtile Art, die prekären Eingriffe des Menschen in die Landschaft, durch Großbauprojekte wie Talsperren, Strassenzüge oder Windkraftanlagen, wobei Schulze noch einen Schritt weiter geht und neben den Fotografien Infografiken zeigt, welche das Ausmaß der globalen Veränderungen veranschaulichen. Auf weniger subtile, eher brutale und indiskrete Weise stellt Philipp Kummer in seinen Skulpturen die Hybris des Menschen dar oder stellt Stefan Schiek die ambivalente Frage nach dem Positiv. Werner Schubert–Deister zeigt in seinen zwischen abstrakt und figurativ changierenden Monotypien und Aquarellen, technische Rückstände welche an einen archäologischen Fund erinnern, chemische Wolken über der Stadt oder geologische Veränderungsmomente. Julia Scorna zeigt die Fotografie einer fast dystopischen Zoolandschaft Missing Craps in Dialog mit der ähnlich konnotierten Installation The coming out. Der Ausstellungstitel entlehnt sich einer abstrakten Malerei von Adam Noack, welche den Zorn durch den Gestus und die Gülle sowie das Glyphosat durch die Farbgebung darstellt.
Aufgrund der umfangreichen inhaltlichen Ausrichtung und räumlichen Gegebenheiten in der Kantstraße 28 in Berlin-Charlottenburg erfährt die Ausstellung eine erweiterte kuratorische Ausrichtung und Kontextualisierung durch ein Rahmenprogramm. Sei es in Form eines Mitschnittes einer TV Talkshow aus dem Jahre 1993, in welcher Dirk C. Fleck kontrovers mit Gegnern des menschengemachten Klimawandels diskutiert, oder in Form eines von Fleck verschriftlichten Fernsehshowkonzeptes mit dem Namen Die GO! Show. Sei es durch das Einbinden des Endzeit-Computerspieles Burn Time der Firma Max Design, der Bereitstellung einer die Ausstellungsinhalte vertiefenden Bibliothek, eines Performanceabends von Benedikt Braun und Konstantin Bayer oder der Lesung von Dirk C. Fleck aus seinem Buch Die Ökodiktatur.
Wir freuen uns auf Ihren Besuch zur ersten Ausstellung von Eigenheim Berlin in den neuen Räumen in der Kantstraße 28 in Berlin-Charlottenburg und auf vielseitige, und das durchaus kontroverse Thema, vertiefende Diskussionen.
Biografien
Enrico Freitag *1981 in Arnstadt, lebt und arbeitet in Weimar / 2002 – 2007 Studium Freie Kunst, Bauhaus-Universität Weimar / seit 2007 Vorstand Galerie Eigenheim e.V. / seit 2007 freischaffend als Künstler
Claudius Schulze *1984 in München, lebt und arbeitet in Hamburg / 2004 – 2007 Studium der Politik- und Islamwissenschaft in Hamburg / 2007 – 2010 Studium Konfliktstudien in Istanbul / 2011 graduierte er vom M.A. Programm „Fotojournalismus und Dokumentarfotografie“ des London College of Communication, University of the Arts London / Anschließend arbeitete er als freier Fotograf für Magazine, unter anderem für die Nachrichtenmagazine Der Spiegel und Stern, NEON und GEO. Mit Dank an Robert Morat Galerie
Julia Scorna *1983 in Magdeburg, lebt und arbeitet in Paris und Leipzig / 2003 – 2008 Studium der Visuellen Kommunikation an der Bauhaus-Universität Weimar / seit 2009 Leitung des Journal of Culture
Stefan Schiek *1976 in Ulm, lebt und arbeitet in Weimar / 1997 – 2002 Studium der Mediengestaltung/Freien Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar / 1999 – 2000 Studium der Audiovisuellen Kommunikation Universidad Pompeu Fabra Barcelona
Benedikt Braun *1979 in Konstanz, lebt und arbeitet in Weimar / 2001 – 2009 Studium der Visuellen Kommunikation & Freien Kunst an der Bauhaus-Uni Weimar / seit 2010 selbstständig als UFK Ultra Freier Künstler
Adam Noack *1984 in Duisburg / lebt und arbeitet in Weimar und Leipzig / 2007 - 2013 Studium der Freien Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar / 2010 Auslandsemester am Pratt Institute New York
Konstantin Bayer *1983 in Gotha, lebt und arbeitet in Weimar und Berlin / 2001 – 2004 Berufsausbildung zum Umweltschutz-Technischem Assistenten mit Fachabitur / 2004 – 2007 Studium der Mediengestaltung an der Bauhaus-Universität Weimar, BFA / 2006 - Gründung der Galerie Eigenheim in Weimar / 2008 - 2009 Studienaufenthalt in Shanghai (China), Stipendium DAAD / 2007 – 2011 Studium an der Bauhaus-Universität Weimar und an der Tongji-University Shanghai mit den Abschlüssen Master of Fine Arts und Master of Art (communication) / seit 2011 selbständig als Künstler und Kurator und künstlerischer Leiter der Galerie Eigenheim
Philipp Kummer *1979 in Dresden, lebt und arbeitet in Leipzig / 2006 - 2012 Studium der freien Malerei an der AdbK Nürnberg bei Prof. Thomas Hartmann & Prof. Ralph Fleck / seit 2012 Meisterschüler bei Prof. Ralph Fleck
Werner Schubert–Deister *1921 in Hachelbich; † 1991 in Borsum / 1937 und 1940 studierte er Kontrabass und Klavier an der Musikhochschule in Bad Frankenhausen / 1946 – 1949 Fortsetzung des Musikstudiums in Sondershausen / 1950 – 1952 Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig / 1952 – 1986 lebte er als freischaffender Maler und Grafiker in Friedrichroda / 1981 – 1986 mehrere Ausreiseanträge wurden abgelehnt / 1986 Ausreise nach Borsum bei Hildesheim wo er 1991 verstarb
Dirk C. Fleck *1943 in Hamburg, lebt und arbeitet in Hamburg / Nach dem Abitur und einer Buchhändlerlehre absolvierte Fleck seinen zivilen Ersatzdienst in München. Anschließend studierte er an der Deutschen Journalistenschule in München. Er volontierte beim Spandauer Volksblatt in Berlin, war Lokalchef der Hamburger Morgenpost, Reporter bei Tempo sowie Redakteur bei Merian und Die Woche. Er arbeitete als Kolumnist für Die Welt und die Berliner Morgenpost, für die er über 200 Biografien bundesdeutscher Persönlichkeiten geschrieben hat. Er war freier Autor für die Magazine stern, GEO und Der Spiegel. Dirk C. Flecks journalistisches Augenmerk gilt vor allem dem Thema Ökologie.
Max Design wurde 1991 von den Brüdern Albert und Martin Lasser zusammen mit Wilfried Reiter gegründet und war ein österreichischer Spieleentwickler mit Sitz in Schladming, der einige Spiele mit Kultstatus vor allem im deutschsprachigen Raum hervorgebracht hat. Das Unternehmen stellte 2004 seine Aktivitäten ein / Max Design wurde bekannt für die umfassenden Anleitungen mit Hintergrundinformationen zum eigentlichen Spielthema (bei Burntime z. B. mit Artikeln zum Klimawandel oder bei Oldtimer zur Geschichte des Automobils bis zur Weltwirtschaftskrise.